Anette Rose
„Enzyklopädie der Handhabungen. Modul # 8-11 und 15“,
Installationsansicht, Deutsches Technikmuseum, Berlin, 2010
Foto: Christine Woditschka
„Grifformen“, Einladungskarte, Cluster, Berlin, 2008
Gestaltung: Thomas Eifler
„Enzyklopädie der Handhabungen. Modul # 1-7“, Installationsansicht und Videostills, Museum für Kommunikation, Berlin, 2006; „Modul # 4. abstoßen, schleifen, verputzen – automatisiert“, Einkanalvideo, 1:15 Min., DVCAM auf DVD, mit Ton, Loop, 2006
Foto: Gerhard Haug
„Colossal - Kunst Fakt Fiktion“, Installationsansicht, Tuchmacher Museum Bramsche/Osnabrück, 2009-2011; „Enzyklopädie der Handhabungen. Modul # 15. verputzen, beischleifen, stanzen, stempeln, ketteln, einziehen, tauchen, ringen, walzen, eindrehen, schleifen“, Zweikanalvideo, 2 x 13:14 Min, DVCAM auf DVD, mit Ton, Loop, 2008
Foto: Christian Grovermann
„Enzyklopädie der Handhabungen. Setfoto # 2“, 2009, C-Print, 60 x 90 cm,
Foto: Jörg Wagner
„16 Traumstücke“
Einkanalvideo, 51 Min, Digibeta, 16:9, OmE, mit Ton, ZDF – Das kleine Fernsehspiel, 2001, Videostill
„Hand und Arbeit, Geste und Abdruck“,
Installationsansicht, Kunsthaus Kloster Gravenhorst, 2009: Detailansicht, 4 Furansandkerne, geschlichtet; Videostils, Zweikanalvideo, 2 x 22:14 Min, DVCAM auf DVD, mit Ton, Loop, 2009
Fotos: Bettina Bartzen
Anette Roses Videoarbeiten sind konzeptuell im Ansatz, minimalistisch der Form nach
und dokumentarisch vom Gegenstand her. Die „Enzyklopädie der Handhabungen“ (seit
2006) beschäftigt sich mit der Hand im Arbeitsprozess. Die Aufnahmen konzentrieren
sich auf das Zusammenspiel von Hand, Auge und Maschine. Die Videoinstallationen
zeigen Großaufnahmen von Gesichtern Arbeitender synchron zu den von ihnen
ausgeführten Handgriffen an der Maschine. Rose integriert Aufnahmen von
vollautomatisch ablaufenden Produktionsprozessen. In der Kombination fällt die
Übersetzung von Handgriffen ins Maschinelle auf, zum Beispiel wenn die Zangen eines
Roboters ein Werkteil fassen.
Der konzeptuelle Ansatz der groß angelegten Arbeit ist, der haptische Intelligenz nach zu
fragen und sie in den zeitgenössischen Produktionsformen zu beobachten. Es geht dabei
um die Intelligenz der Hand selbst, ihre sensorische und feinmotorische Kompetenz. Der
Prothetik wie der Robotik gibt sie immer noch viele Rätsel auf. Dazu befragt Rose
Experten und schaut in OP-Sälen und Laboren zu. Dies gehört zu ihrer Recherchearbeit.
Einzelne Befragungen werden in die Enzyklopädie integriert. Vieles fließt in
Veranstaltungen ein, die die Ausstellungen einzelner Module – es sind inzwischen
siebzehn – der „Enzyklopädie der Handhabungen“ begleiten.
Die anatomisch unendlich komplexe, kulturell geformte Hand hat sich
evolutionsgeschichtlich aus ihrem Zusammenspiel mit Auge und Werkzeug entwickelt.(1) In
diesem Prozess modellieren sich Hand und Werkzeug gegenseitig. Werkzeuge imitieren
die Hand und werden ihrem Gebrauch angepasst. Maschinen imitieren die Bewegungen
des Greifens, Ziehens, Schlagens, Drückens, und so weiter. Sie geben die Rhythmen der
Handbewegungen vor, auf die sie ihrerseits abgestimmt sind. Roses Interesse ist es,
ohne jede nostalgische Verklärung der Rolle dieser anderen Intelligenz im
Produktionsalltag nachzugehen. Anders als in Dokumentarfilmen geht es weder um die
Produkte, die hergestellt werden, noch um die sozialen Arbeitsbedingungen. Es gibt keine
Erklärung aus dem Off, keine Erzählung, nur die genaue Beobachtung, die mit dem
rhythmischen Geräusch der Maschinen unterlegt ist. Die Reduktion der Einstellungen auf
Gesicht und Hände führt zu einer starken Verdichtung.
Die dokumentarische Seite von Anette Roses Arbeit besteht darin, dass sie Material zu
einer Physiologie haptiler Intelligenz zusammenträgt und zugleich ein Archiv industrieller
Produktionsweisen anlegt, die (noch) nicht ohne manuelle Arbeit auskommen. Sowohl die
Ambition dieses Langzeitprojekts wie auch seine visuelle Prägnanz schreiben die
„Enzyklopädie der Handhabungen“ in eine Tradition ein, die von August Sanders Stände
Porträts bis zu den von den Bechers aufgenommenen Industriebauten reicht. Auch im
Dokumentarfilm gibt es Langzeitprojekte, die soziale Fakten herausarbeiten. Aber nur im
Medium Fotografie gab es bisher visuelle Typologien, die der vergleichende Blick erfassen
kann. Durch die Kombination der geloopten Sequenzen im Raum der Installation eröffnen
sich neue Möglichkeiten. Wie in den Arbeiten von Sander und – radikaler noch – bei den
Bechers, unterstützen gleich bleibende Parameter für die Aufnahmen ihre
Vergleichbarkeit. Diese Strategie folgt Praktiken der empirischen Wissenschaften: Gerade
durch die Verallgemeinerung in Erfassung und Darstellung tritt das Abweichende, das
Spezielle deutlicher hervor. Die Festlegungen und seriellen Anordnungen sind bei Rose
nicht nur formales Prinzip. Sie wiederholen die Standardisierungen durch die Maschinen,
den Rhythmus der vorgegebenen Handgriffe. Davon heben sich die konzentrierten
Gesichter der Arbeitenden ab. Rose zeigt sie in Großaufnahme. Das geht über das
Statuarische der Fotografie hinaus, weil in der Mimik die Konzentration und Anstrengung
der Arbeit ablesbar sind. Die Aufnahmen repräsentieren die Arbeit nicht, sie zeigen sie
konkret in der Koordination von Blick, Hand, Werkstoff und Maschine. Gleichwohl
bekommen die Gesichter besonders in der Projektion etwas Ikonisches. Es ist Fabrikalltag
wirklicher Menschen und zugleich eine Würdigung gesellschaftlicher Arbeit, die in der
Regel unsichtbar bleibt. Ohne einen partizipativen Prozess, an dem die Gefilmten aktiv
teilnehmen, könnten solche Aufnahmen nicht entstehen. Ihnen gehen gründliche
Recherchen im Betrieb und viele Gespräche voraus. Setfotos und Werkstattgespräche in
der Gießerei zeigen, dass es eine Rückkoppelung zwischen der Arbeit der Künstlerin und
dem Blick auf die Arbeit im Betrieb gibt.
Es gehört zur künstlerischen Arbeit Anette Roses, an der Konkretion sozialer Akte
anzusetzen, um zu einer ästhetischen Organisation zu kommen. Wie die Bechers, die
systematisch Artefakte einer Industriekultur aufgenommen haben, arbeitet sie an der
Schnittstelle zwischen Dokumentarischem und Seriellem. Vom Gegenstand her ist Roses
„Enzyklopädie der Handhabungen“ ein Beitrag zum sozialen Gedächtnis industrieller
Arbeit. Die Formstrenge, mit der sie Auswahl und Schnitt bestimmt, ermöglicht
zuallererst die Kohärenz der Module, aus denen sich die „Enzyklopädie der
Handhabungen“ zusammensetzt. Rose beginnt in all ihren Arbeiten mit irregulären,
sozialen Prozessen, die sie auf visuelle Ausdrucksformen hin untersucht – so den Einsatz
der Hände beim Sprechen und die Mimik, welche die Traumerzählungen in dem Videofilm
„16 Traumstücke“ begleiten. Nach und nach schält sie aus den Beobachtungen das
Material heraus, indem sie reduziert und verdichtet. Die radikale Reduktion führt dabe
aber nicht zur Abstraktion. Die minimalistische Form steht in der Spannung zum
performativen, sozialen Akt. Die Serialität dient einer visuellen Erkenntnisform. Anders
als bei den Minimalisten der 1960er Jahre bezieht sie sich nicht allein auf den Akt der
Wahrnehmung, von dem nichts ablenken sollte. Künstler wie Donald Judd oder Carl
André ließen ihre Objekte aus industriellen Baustoffen fertigen, um die individuelle
Ausdrucksform ebenso zu löschen wie das herkömmliche Bedeutungsspektrum der
Skulptur. Mit der Durchsetzung einer minimalistischen Ästhetik verschwand allerdings die
Erinnerung an die Herkunft aus der industriellen Massenproduktion. In einer ihrer
jüngsten Installationen „Hand und Arbeit, Geste und Abdruck“ bezieht Anette Rose
Formen mit ein, die an minimalistische Objekte erinnern: Es sind Sandkerne aus der
Gießerei. Sie sind Relikte aus dem industriellen Prozess, mit dem sich die Videos
befassen und zugleich eigenständige Objekte, die nichts Illustratives haben. In den
1960iger Jahren ist die Übernahme serieller Fertigungspraktiken in der Kunst noch eine
Provokation und enthält das Versprechen eines voraussetzungslosen Zugangs zur Kunst.
Sobald der Zusammenhang mit der industriellen Produktion verschwindet, wirkt
Minimalismus formalistisch, die Serie wird zur ubiquitären Form.
Das Besondere an der „Enzyklopädie der Handhabungen“ ist, dass Anette Rose damit an
den verdrängten Ort des Seriellen zurückkehrt: in die Fabrik. Vielleicht ist nur Harun
Farocki ähnlich insistent in der Bestimmung der Fabrik als Ursprung und Zentralfigur für
die politische wie mediale Entwicklung seit dem Anfang des 20. Jahrhunderts. Während
für Harun Farocki als Dokumentarfilmer und Aufklärer auch im Ausstellungskontext die
Textebene eine größere Rolle spielt, setzt Anette Rose auf die visuelle Evidenz. In ihren
Arbeiten nutzt sie die Möglichkeiten der Installation, Kontexte herzustellen, in denen sich
diese Evidenz entfalten kann. Das liegt unter anderem daran, dass der Minimalismus uns
gelehrt hat, der Kunst nicht gegenüber zu stehen, sondern mit ihr ganz konkret einen
Wahrnehmungsraum zu teilen und, anders als im Kino, selbst über die Form des
Hinschauens zu entscheiden. Jede Installation von Modulen aus der „Enzyklopädie der
Handhabungen“ bestimmt den Rahmen dafür neu. Der Minimalismus ist nicht zu unrecht
verdächtigt worden, in einem ästhetischen Formalismus zu erstarren. Serialität und
Öffnung zum Raum sind übernommen und unterschiedlich aufgeladen worden. Anette
Rose stellt mit ihrer Arbeit die Verbindung zu seiner Herkunft wieder her. Die forschende
Neugier in der Konzeption und die reale Auseinandersetzung mit sozialen Prozessen
machen die minimalistische Form zum Werkzeug und Ausdruck ihrer künstlerischen Arbeit.
(1) Vgl. Leroi-Gourhan, André: Hand und Wort. Die Evolution von Technik, Sprache und Kunst. Frankfurt am Main (Suhrkamp Verlag) 1980.
Text zum Herunterladen (PDF 0,2 MB)
1962
geboren in Bünde/Westfalen, lebt und arbeitet in Berlin
1989-1997
Studium der Experimentellen Medienkunst an der Hochschule der Künste, Berlin
1994-1995
Central Saint Martins College of Art, CFAP, London, Großbritannien
1997
Meisterschülerin bei Heinz Emigholz, Hochschule der Künste, Berlin
2010
Katalogförderung, Senatskanzlei, Berlin
Kunstpreis für IT & Medienkunst "Art of Engineering"
2009
Projektstipendium Kunst-Kommunikation, Kunsthaus Kloster Gravenhorst, Nordrhein-Westfalen
2007
Projektförderung des Medienbords Berlin-Brandenburg
2006
Projektförderung Film/Video der Senatskanzlei, Berlin
Projektförderung der Kunststiftung NRW
Projektförderung des Hauptstadtkulturfonds, Berlin
2005
Arbeitsstipendium für Bildende Kunst der Senatskanzlei, Berlin
2003
Projektförderung Goldrausch Künstlerinnenprojekt art IT, Berlin
2001
Untertitelförderung Film/Video der Senatskanzlei, Berlin
2001-2003
Atelierstipendium der Karl Hofer Gesellschaft, Berlin
1999-2001
Filmförderung, ZDF-Das kleine Fernsehspiel
1996
Bochumer Dokumentarfilmpreis
2010
Medizinhistorisches Museum der Charité, Berlin
2009
"Hand und Arbeit, Geste und Abdruck", Kunsthaus Kloster Gravenhorst, Nordrhein-Westfalen
2008
"Grifformen", Cluster, Berlin
2006
"Enzyklopädie der Handhabungen", Museum für Kommunikation, Berlin
Kunstbank Berlin, mit Susanne Pomrehn
2005
"Piano-Archive-Hearing Voices", ETA Project Space, Brighton, Großbritannien, mit Giles Drayton
Capri, Berlin, mit Petra Trenkel
2010
Motorenwerke #2, Galerie oqbo, Berlin
Deutsches Technikmuseum, Berlin
2009-11
"Colossal – Kunst Fakt Fiktion", Tuchmacher Museum, Bramsche/Osnabrücker Land, Niedersachsen (K)
2008
"Die Hände der Kunst", Marta Museum, Herford, Nordrhein-Westfalen
"Hand-haben", Kunsthalle und Maschinenhaus, Kiel (K)
2007
"Monitoring", Kulturbahnhof, Kassel
"OWL1", Marta Museum, Herford, Nordrhein-Westfalen (K)
"Work in Progress", Kulturstiftung des Bundes in Berlin, Erfurt, Freiburg und Nürnberg
2006
"Zwischen Körper und Objekt", Marta Museum, Herford, Nordrhein-Westfalen (K)
2004
"Uwaga Berlin!", Baszta Czarownic, Video Lounge, Slupsk, Polen
2003
"Goldrausch 03", Kunstraum Kreuzberg/Bethanien, Berlin (K)
Haus am Waldsee, Berlin
2002
Forumbox Galerie, Helsinki, Finnland
2001
"16 Traumstücke", ZDF-Das kleine Fernsehspiel / Kino Arsenal, Berlin
"Gesture – Evolution, Brain, and Linguistic Structures", Europa-Universität Viadrina Frankfurt/Oder, 2010
"Wie Wirklichkeit erzählen?", Muthesius Kunsthochschule, Kiel, 2008 / Hochschule für Design & Kunst, Luzern, CH, 2009
"Das Konkrete als Zeichen", DGS, Universität Stuttgart, 2008
"Orientations - Word & Image", Universität Hamburg, 2002
"Gesture - The Living Medium", University of Texas at Austin, USA, 2002
Rose, Anette: „Enzyklopädie der Handhabungen“, Bielefeld (Kerber Verlag) 2011
Lindner, Ines: „Hand und Auge. Zur Enzyklopädie der Handhabungen“, in: Landschaftsverband Osnabrücker Land e.V. (Hg.): „Colossal – Kunst Fakt Fiktion“, Kurator: Jan Hoet. Bramsche (Rasch Verlag) 2009
Reuter, Jule: „Enzyklopädie der Handhabungen. Modul # 8-12“, in: Marta Herford (Hg.): „OWL1“, Bielefeld (Kerber Verlag) 2007
Marta Herford (Hg.): „Zwischen Körper und Objekt“, Herford 2006
Lindner, Ines; Rose, Anette: „Entfalten medialer Situationen“. Gespräch mit Ines Lindner. In: Goldrausch Künstlerinnenprojekt art IT (Hg.): „Ich fürchte, ich bin im Bild“, Berlin 2003